Es war das größte Wunder und Duan hätte es nicht erlebt, wenn der Bus nicht plötzlich stehen geblieben wäre. Einem Impuls folgend, trottete Duan über die gefrorenen Felder; die Mitreisenden blieben zusammengedrängt im Bus zurück. Er fühlte sich einsam und war tief betrübt. Der 77-jährige Wanderprediger hatte keinen Ort, den er sein Zuhause nennen konnte. Voller Sehnsucht dachte er an seine geliebte Ehefrau, die vor langer Zeit gestorben war. Noch schwerer lastete die Erinnerung an seinen kleinen Sohn auf seinem Herzen.
In der nächsten Ortschaft klopfte er an eine Tür. Ein kleines Kreuz war am Türpfosten befestigt. Ein Mann hieß Duan herzlich willkommen. Ein heißes Gemüsegericht wurde ihm angeboten. Es fiel ihm auf, dass frohe Aufregung herrschte. Schließlich erfuhr er den Grund. Ein bekannter Bibellehrer wurde in einem Nachbarort erwartet. «Wie heißt er?», fragte Duan. «Bruder Wang», erwiderten sie. Auf dem Weg zum Treffen erzählten sie Duan von Wang und weshalb ihn alle liebten. «Wir nahmen an einem Ausbildungsseminar teil. Plötzlich kam die Polizei. Alle konnten rechtzeitig entkommen außer Wang und der Pastor. Wang bot an, anstelle des Pastors ins Gefängnis zu gehen. Die Frau des Pastors war damals im achten Monat schwanger. Die Polizei ging den Handel ein. Während seiner dreijährigen Haft sandte Wang dem Pastor und seiner Familie sogar seine Lebensmittelpäckchen.»
Als Duan erfuhr, dass Wang um die vierzig Jahre alt sei. legte sich ein schmerzlicher Schatten über sein Gesicht. «Was ist mit dir?», fragten sie. «Ist die Karrenfahrt zuviel für dich?» «Nein», erwiderte Duan, «nein, ich bin heute nur sehr traurig. Ihr müsst wissen, ich hatte einen Sohn. Er war nur zwei Monate bei mir. Heute wäre er zweiundvierzig Jahre alt geworden. Meine Frau nannte ihn unser Weihnachtskind, weil er am gleichen Tag wie Jesus geboren war. Ich nannte ihn Isaak, weil wir so lange auf ein Kind gehofft hatten. Er kam erst nach zehn Ehejahren und wir fühlten uns wie Abraham und Sarah.»
Für eine Weile zogen sie schweigend unter dem Sternenhimmel dahin. Dann fragte ein Mädchen: «Ist er denn so früh gestorben?» Duan lächelte traurig: «Nein, aber er war nur zwei Monate bei uns.» Dann erzählte er ihnen die Geschichte.
Seine Frau und er waren Missionare. Nach Isaaks Geburt begann eine schwere Zeit. Ein ehemaliger Klassenkamerad Duans - er wurde der zweifingrige Wu genannt - hörte nicht auf, sie eines schlechten Lebenswandels und religiösen Aktivitäten zu beschuldigen. Sie lebten in ständiger Gefahr, verhaftet oder gar getötet zu werden. Doch was sollte dann aus dem Jungen werden?
Eines Nachts glaubte seine Frau, Gottes Stimme zu hören: «Gib deinen Sohn dem Feind.» Sie sagte ihrem Mann nichts davon, doch Duan stieß am folgenden Morgen in der Bibel auf den Vers im 1. Buch Mose Kapitel 22:
«Nimm Isaak, deinen Sohn, deinen einzigen, den du so sehr liebst, ... und opfere ihn mir...» Da spürte er, daß Gott ihm und seiner Frau etwas Furchtbares auftrug. Sie besprachen sich und kamen zu dem schmerzlichen Entschluß, ihren Sohn dem zweifingrigen Wu zu geben. Wu nahm freudig an, da er und seine Frau kinderlos waren.
Kurz darauf wurde Duan verhaftet und später zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung 1978 - seine Frau war inzwischen verstorben - versuchte Duan verzweifelt, seinen Sohn zu finden, aber Wus Familie war seit dem fürchterlichen Erdbeben von 1975 verschwunden.
Als die Gruppe sich dem Treffpunkt näherte, sagte Duan traurig: «Gott hat mir Schweres auferlegt, weil ich so verantwortungslos mit meinem Sohn umgegangen bin.»
Das kleine Haus war zum Bersten voll. Viele, auch Duan, mussten im Vorhof sitzen um dem Bibellehrer zuzuhören. Als der zu sprechen begann, war Duan wie elektrisiert, es war ihm, als ob er sich selbst sprechen hörte! Er stieg über die Leute hinweg um sich einen Weg zum Fenster zu bahnen und dann sah er den Prediger. Wang wurde auf die Bewegung draußen aufmerksam und schaute zum Fenster. Einige Sekunden lang herrschte Totenstille als die beiden Männer sich ansahen. Die Leute waren wie gebannt. Die physische Ähnlichkeit war offenkundig. Duan begann, sich zu entschuldigen: «Es tut mir schrecklich leid, dass ich Ihre Predigt unterbrochen habe. Sehen Sie, ich hatte einen Sohn und wenn er noch lebte, wäre er jetzt in Ihrem Alter; seine Stimme wäre genauso wie die Ihre.»
Wang begann am ganzen Leib zu zittern, jemand fing ihn auf als er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Tränen schossen in seine Augen und er flüsterte heiser: «Bist du mein Papa Duan?»
Alle weinten. Vater und Sohn hatten sich nach zweiundvierzig Jahren wiedergefunden. Wang war tatsächlich von Wu aufgezogen worden. Dieser aber war von Duans Opfer so sehr beeindruckt, dass er selber ein tiefgläubiger Mensch wurde. Er pflegte zu Wang zu sagen: «Dein richtiger Vater ist ein großer Mann Gottes. Er gab dich mir. Gib Gott immer den ersten Platz in deinem Leben, genauso wie dein Vater das tut.» Wangs Adoptiveltern zogen weg, bevor das Erdbeben alles zerstörte und beide starben an Krebs. Wang wurde Prediger und bemühte sich unaufhörlich, seinen richtigen Vater zu finden. Doch Duan hatte seinen Namen so oft geändert um Festnahmen zu entgehen, dass er sogar für seinen eigenen Sohn unauffindbar blieb.
Während Vater und Sohn sich weinend in den Armen lagen, stand einer auf und sagte: «Wir haben die Weihnachtsbotschaft heute nicht nur vernommen sondern mit unseren eigenen Augen sehen dürfen. Genau wie Duan seinen Sohn dem Feind auslieferte, so hat Gott seinen Sohn uns Sündern ausgeliefert. Lasst uns die Wiedervereinigung der Duans feiern - und auch unsere eigene Versöhnung mit Gott!»
(Die Geschichte wurde von Open Doors zur Verfügung gestellt)
